Sandro im grossen Blickinterview

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Sandro Schärer ist der beste Schiri der Schweiz

«Ich pfeife lieber Geisterspiele als gar nicht»

SonntagsBlick trifft Sandro Schärer (31) im leeren Letzigrund und redet mit dem besten Schweizer Schiedsrichter über seine Passion, den VAR, Geisterspiele, Treppenlaufen und seinen Ehrgeiz.

Sandro Schärer, Geisterspiele sind sicher einfacher zu pfeifen? Da hört man alles, ist nicht abgelenkt.
Sandro Schärer: Nicht unbedingt. Es kommt zwar weniger Druck von aussen. Andererseits fehlt auch die Resonanz. Die Fans in den Stadien würden mir fehlen.

Einige Exponenten aus dem Fussball ziehen den Meisterschaftsabbruch den Geisterspielen vor. Sie auch?
Ich pfeife lieber Geisterspiele als gar nicht. Schiedsrichter sein ist mein Job und meine Passion. Aber ich verstehe, dass beispielsweise der Geschäftsführer eines Klubs eine andere Sichtweise haben kann.

Wie sieht Homeoffice bei einem Schiedsrichter aus?
Ich mache sehr viele Rumpfübungen zuhause, gehe zweimal in der Woche alleine draussen intensiv trainieren und renne oft das Treppenhaus rauf und runter.

In welchem Stockwerk wohnen Sie?
Im zweiten. Aber das Haus hat sechs Stockwerke. Ich merke, dass die neuen Trainingsformen mir gut tun. Vielleicht war ich vor dem Lockdown zu oft im Fitness-Center. Ich fühle mich fit und bin bereit, falls es losgeht.

Haben Sie eigentlich auch Fussball gespielt?
Klar. Immer in der Schule und beim FC Buttikon. Der einzige Klub, von dem ich je Fan war.

Weshalb haben Sie als Schiedsrichter angefangen?
Ich war auf dem Platz ein Aufmüpfiger und hatte Mühe, Schiedsrichter-Entscheidungen zu akzeptieren. Irgendwann meinte mein Vater, ich solle es doch besser machen. So habe ich mit 15 mein erstes Spiel gepfiffen. Während einer Saison habe ich parallel B-Junioren gespielt und gepfiffen.

Und waren plötzlich der grosse Schiedsrichter-Versteher?
Ich merkte schon, wie ich plötzlich das Gefühl hatte, dem Schiri helfen zu müssen. Einmal habe ich dem Gegner einen Einwurf überlassen, der fälschlicherweise mir zugesprochen wurde. Ich hatte plötzlich ein anderes Verständnis von Fairness.

Und für Ihre Mitspieler wurden Sie zum grossen Ärgernis!
(lacht) Ich habe ihre Reaktionen nicht mehr präsent. Aber ich könnte es mir vorstellen.

Man sagt: Schiedsrichter wird, wer es nicht zum Fussballer schafft.
Es hätte mir nicht zum Profifussballer gereicht. Aber ich träumte auch nie davon, nicht mal als Achtjähriger. Doch schon nach dem ersten Pfiff wusste ich, dass ich Profischiedsrichter werden will. Es machte mir einfach Spass.

Ihre Karriere ging steil nach oben. Hatten Sie auch schwierige Zeiten?
Immer wieder. Aber ich wurde nie angegangen oder attackiert, wenn Sie das meinen. Es wird aber immer wieder Fehlentscheide und Kritik geben.

Wie gehen Sie mit Kritik um?
Mittlerweile sehr gut. Sogar wenn sie ungerechtfertigt ist. Das ist nun mal die Rolle von uns Schiedsrichtern. Auf unseren Rücken werden gewisse Sachen ausgetragen, für die wir nicht viel können.

Ein Beispiel?
Mein letztes Spiel als VAR bei St. Gallen gegen YB. Alain Bieri war Schiedsrichter. Da haben wir unseren Job reglementarisch richtig gemacht. Und dennoch wurde eine Debatte geführt, für die wir schlichtweg nichts können, da die internationalen Vorgaben klar sind.

St. Gallen-Goalie Zigi hielt den Penalty von Hoarau. Sie liessen diesen aber wiederholen, weil Zigi die Linie zu früh verliess. Im zweiten Versuch traf Hoarau zum 3:3. Es war in 99. Minute.
Die Dramaturgie des Spiels hat sicher auch zum Rummel beigetragen. Aber das Problem war, dass es bis dahin erst einen solchen Fall in der Schweiz gegeben hat: Im August bei St. Gallen gegen Lugano, ich war Schiedsrichter. Wir liessen es damals durchgehen und keiner hat reklamiert. Aber im Anschluss haben wir Schelte gekriegt.

Von wem?
Vom IFAB, dem Internationalen Football Association Board. Es hiess, dass wir ab sofort genauer hinschauen müssen. Die Regelverschärfung wurde den Klubs sofort mitgeteilt. Doch wir wussten, dass es bei der Umsetzung Polemik geben würde. Ich hoffte, dass ich nicht der erste bin, den es trifft. Aber so ist es dann gekommen.

Sie würden als VAR wieder einschreiten?
Ich muss. Tue ich es nicht, mache ich bewusst einen Fehler. Es gibt bei dieser Regel keinen Interpretationsspielraum. Aber es ist auch uns klar, dass die Umsetzung äusserst schwierig ist. Dennoch ist es nicht an uns zu beurteilen, ob sie im Sinne des Fussballs ist. Das ist die Aufgabe der internationalen Regelhüter.

Sind Sie gerne VAR?
Ich bin lieber Schiedsrichter. Aber ich bin auch gerne der VAR. Es ist eine andere Rolle. Man muss ausblenden, dass man Schiedsrichter ist. Man muss sich zurücknehmen und nur bei einem klaren, spielrelevanten Fehler intervenieren. So wie wir in der Schweiz den VAR anwenden, ist er wirklich sehr gut. Ich war auch schon dankbar.

Wann?
Gleich beim ersten Saisonspiel zwischen Sion und Basel: Ich war mir sicher, dass FCB-Goalie Omlin dem Sion-Stürmer die Fäuste ins Gesicht geschlagen hat. Dann hat sich Stefan Klossner gemeldet und gemeint, Omlin habe den Ball getroffen.

War Ihr erster Gang zum Bildschirm ein Problem?
Einige haben mich gefragt, ob ich in diesem Moment in meinem Stolz verletzt gewesen bin. Aber nein, war ich nicht. Das Einzige was zählt ist, dass der Entscheid richtig ist. Noch vor einem Jahr wäre ich nach so einem Fehlentscheid tagelang enttäuscht gewesen. Jetzt konnte er korrigiert werden.

Reden Sie auf dem Rasen viel mit den Spielern?
Grundsätzlich kann jeder zu mir kommen. Aber bei grossen Entscheidungen, nicht bei jedem Einwurf. Auf Augenhöhe miteinander reden und den Anstand wahren, ist das wichtigste. «C’est le ton qui fait la musique», sagt man doch.

Sticheln Sie auch zurück, wenn Sie provoziert werden?
Normalerweise nicht. Aber ich habe es sicher auch schon getan. Fussball ist so schnell geworden, da liegen Gespräche gar nicht mehr drin. Aber ich habe schon Spieler erlebt, die Trash-Talk brauchen – auch mit dem Schiedsrichter.

Nennen Sie einen Namen?
Dani Gygax zum Beispiel liebte es zu provozieren. Habe ich ihm nicht geantwortet, war er unzufrieden. Er meinte dann: «Du musst dich wehren, wenn du in die Champions League willst!»

Wie hat Sie Gygax provozieren wollen?
Immer mit dem nötigen Witz. Zum Beispiel hat er mich einmal gefragt, wie ich eigentlich heisse und wo denn mein Fifa-Badge sei. (lacht)

Können Sie überhaupt unvoreingenommen pfeifen? Sie kennen ja alle Spieler und ihre Mätzchen.
Ein guter Schiedsrichter muss die Spieler sogar sehr gut kennen. Ich muss wissen, ob ein Spieler schnell zu Boden geht. Wie schnell ein Stürmer ist. Ob die Mannschaft mit langen Bällen spielt. Weiss ich das nicht, stehe ich auf dem Platz wie ein Tourist. Ein Schiedsrichter muss antizipieren, sonst ist er immer zu spät.

Sind Sie mit Spielern oder Trainern befreundet?
Nein. Das wäre ein No-Go. Tut man nicht, macht man nicht. Aber wenn man sich neben dem Platz per Zufall sieht, sagt man sich Hallo. Mehr nicht.

Wären Sie sauer, wenn Sie während einer Saison viermal nicht YB gegen Basel pfeifen dürften?
Das ist, als würden Sie einen Fussballer fragen, ob es ihm egal sei, auf der Bank zu sitzen. Ich bin nun mal sehr ehrgeizig. Ich habe den Anspruch an mich, die nächsten zehn Jahre jeden wichtigen Match in der Schweiz zu pfeifen. Beide Cup-Halbfinals, den Final und viermal das Spitzenspiel. Aber ist es möglich? Nein! Und das akzeptiere ich. Es gibt andere Schiedsrichter, die auch Ansprüche haben.

Also wären Sie sauer.
Es ist wie beim Fussballer auf der Bank: Man darf mürrisch sein, aber man muss die Entscheidungen des Trainers akzeptieren. Unsere Trainer sind Dani Wermelinger und Cyril Zimmermann, sie machen die Einteilungen. Es ist Teil des Spiels: Wir haben über 5000 Schiedsrichter in der Schweiz aber nur einen Cupfinal.

Trotz Corona-Pause: Verband bezahlt Schiedsrichter weiterhin

Bei den Schiedsrichtern gibt es keinen Lohn-Zoff wegen Corona. Trotzdem machen sich einige Referees finanzielle Sorgen.

Noch ist nicht entschieden, ob die Meisterschaft wieder aufgenommen wird. Und falls ja, wann. Die finanzielle Lage für die Klubs ist teilweise prekär. Es wird über Lohnverzicht und Kurzarbeit gefeilscht, gar gestritten. Nicht so bei den Schiedsrichtern. Man sei dem Schweizerischen Fussballverband sehr dankbar, man spüre die Wertschätzung, sagt Sandro Schärer. «Er macht sehr viel für uns und ist ein verlässlicher Partner.»

Der SFV hat entschieden, seinen Schiris trotz Corona-Pause bis am 7. Juni weiterhin die monatlichen Fix-Entschädigungen zu bezahlen. Wie es danach weitergeht, weiss keiner. Doch die Schiedsrichter und Schiedsrichterassistenten haben ihre Gesprächsbereitschaft gegenüber dem SFV signalisiert. Je nach Professionalisierungsgrad der Unparteiischen haben die einen Schiedsrichter ein höheres, die anderen ein niedrigeres ­Monatsgehalt.

Keine Zusatzeinnahmen

Schärer ist vom Verband zu 60 Prozent angestellt, mehr geht nicht. Zusätzliche Partien in der Schweiz wie zum Beispiel im Schweizer Cup oder im Ausland – er pfiff zuletzt in der Europa League ManUnited im Old Trafford oder den Cupfinal in Kuwait – sind für ihn zusätzlich Einnahmen. Die fallen nun seit Wochen weg. Schärer: «Klar mache ich auch finanzielle Abstriche – wie viele andere Menschen auch. Aber Existenzängste muss ich keine haben.»

Nur ist Schärer kein durchschnittlicher Schweizer Ref. Er ist der Klassen­beste. Wie sieht es bei den anderen aus? Auch die weiteren sechs ­Fifa-Schiedsrichter sind zu mindestens 50 Prozent angestellt. Super-League-Schiedsrichter ohne Fifa-­Lizenz immerhin zu 20 Prozent.

Bei den Referees aus der Challenge League ist die Sachlage ein wenig anders. Sie sind alle Amateure, arbeiten nebenbei in der ­Privatwirtschaft und pfeifen aus Freude und für einen Zustupf.

«Klar mache ich mir Sorgen»

Ihr Anstellungsverhältnis von rund 10 Prozent können sie mit Spielen und VAR-Einsätzen aufbessern. Der Berner Challenge-League-Schiedsrichter Sven Wolfensberger (30, Bild oben) hat im November 2018 seine Stelle in der Privatwirtschaft gekündigt. «Ich wollte auf die Karte Fussball setzen und mich um den Haushalt und unsere Zwillinge kümmern», sagt er. Ihm macht der Lockdown mehr zu schaffen.

Bei Ligabetrieb hätte Wolfensberger nun zwischen vier bis sieben Einsätze pro Monat, aktuell sind es null. «Klar mache ich mir Gedanken und auch Sorgen. Ich hoffe fest, dass die Meisterschaft – allenfalls mit Geisterspielen – beendet werden kann.» (Quelle: Sonntags Blick, 19.4.2020, Michael Wegmann)